Theaterschiff Potsdam
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Neues Deutschland vom 23.10.2014 zu Da fing ich an zu singen

Enttäuschung, aber nicht Lüge - Jutta Wachowiak über Christa Wolf und das Glücklichsein in einer unglückseligen Welt

Jutta Wachowiak, im November 1989 gehörten Sie mit Christa Wolf zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs »Für unser Land« - ein erwartungspathetischer Appell, nun wirklich Sozialismus herzustellen. War das blauäugig?
Blaue Augen sind schön.

Sie wissen, was ich meine.
Klar. Aber Hoffnung muss die Realität übersteigen, sonst kann ja nie was rumgerissen werden. Der Aufruf wandte sich an alle, die schon eine ganze Weile über eine andere DDR nachgedacht hatten.

Jutta Wachowiak

»Da fing ich an zu singen« – so heißt das Soloprogramm von und mit Jutta Wachowiak auf dem »Theaterschiff Potsdam«, Premiere am 24. Oktober, 20 Uhr. Ein Abend mit Texten von und über Christa Wolf. Jutta Wachowiak, über 30 Jahre eine Protagonistin des Deutschen Theaters Berlin, unvergesslich im DEFA-Film »Die Verlobte«, im Herbst 1989 aktiv am Runden Tisch und in der Kommission zur Untersuchung der polizeilichen Übergriffe am 7. Oktober. Mit der 73-jährigen Schauspielerin sprach Hans-Dieter Schütt.

An alle - das sind immer die üblichen Wenigen.
Nichts sollte an geistigen Aufbrüchen unversucht bleiben - und wenn schon scheitern, dann auf dem Niveau von dem, was wir uns nach dieser quälenden Entwicklung damals erträumt hatten. Wir sind enttäuscht worden, aber wir haben uns nicht belogen.

Nicht belogen?
Wir haben nicht plötzlich so getan, als hätten wir keinen Traum gehabt.

»Der Einfall war kindisch, aber göttlich schön« - heißt es in »Don Carlos«.
Ja. Man sehnt sich nach sinnvoller Übereinstimmung mit anderen, und deshalb empfindet man es so schmerzlich, dann meist nur immer in großer Nichtübereinstimmung mit etwas Bestehendem leben zu müssen. Ich muss sagen, die Spielregeln, nach denen nun getanzt wird, die tun mir weh. Ich hielt Dinge für tugendhaft, die nur noch als blöd oder hinderlich gelten.

Zum Beispiel?
Gemeinsinn, Solidarität, Bedachtsamkeit, Offenheit. Jeder streicht sich raus. Wo jemand rennt, sieht sich der nächste in der Pflicht, schneller zu rennen. Man rennt sich um. Ich stehe auf der Bühne, aber ich stehe immer auch auf einem Markt. Die Blicke sind kälter, die Masken aufdringlicher geworden. Und überall Leute, die mir besserwissend mein früheres Leben erklären.

Welches war für Sie das entscheidende Christa-Wolf-Erlebnis?
Der Roman »Kindheitsmuster«. Er hat mich mit ziemlicher Wucht getroffen. Ich bin Berlinerin, wir waren während des Krieges evakuiert, und als die Front näher rückte, sind wir zu Fuß wieder nach Berlin gezogen. Ich war ein kleines Mädchen, und in Christa Wolfs Buch - das ja auch Schilderung einer Flüchtlingsbewegung und ihrer Folgen ist - begegnete ich unerwartet dem wieder, was einst mulmig mein Gemüt bewegt hatte. Es ging um die ersten Lebenseindrücke, die nicht geeignet waren, einen auf das, was dann noch kommen würde, neugierig werden zu lassen. Diese dumpfen Empfindungen fand ich plötzlich in einer so genauen Sprache formuliert, die Ich sagte, ohne je selbstsüchtig zu sein.

Aufklärung als Selbstbefragung.
Diese Literatur tröstete. Sie verband Nähe mit Distanz. Es war, ja, so kann man das sagen, literarische Seelsorge. Diese Bücher begleiteten, trafen mein Lebensgefühl in der DDR. Ich erinnere mich an ein Tagebuchstelle Christa Wolfs, sie hatte 1979 eine Lesung in der Nähe von Schwerin, und wie elektrisiert war sie nach Hause gefahren. Sehr schwer war ihr das Leben in diesem Land schon geworden, aber nun begegnete sie sehr direkt und erschüttert einem Publikum, das von den gleichen Fragen gequält wurde, vor allem von der Frage, wie viele Zugeständnisse man noch machen darf, ohne sich zu zerstören. Bei diesen Fragenden zu bleiben, mit diesen Menschen schreibend Sorge und Würde und kritisches Vermögen zu teilen, das war für sie kein Zugeständnis, sondern stärker denn je ein sinnvoller Auftrag.

Beförderten die Bücher von Christa Wolf auch Ihren inneren Abschied von der DDR?
Ich hatte Fragen ans Leben, und durch die Lektüre ihrer Bücher wusste ich auf eine besondere Weise, ich würde diese Fragen nicht mehr loskriegen. Und war einverstanden damit! Weggehen wollte ich nie. Aber das erledigt ja nicht die Suche nach den Gründen, wieso man eigentlich noch bleiben solle. Das waren Fragen, in denen ich mich mal groß, mal klein fühlte, mal weltbezogen, mal spießig.

Was ist in dem Falle denn spießig?

Wenn man Fragen an sein Leben stellt, sind das immer auch Fragen nach der Art, sich einzurichten. Sesshaftigkeit ist Rückzug. Vier Wände, kleiner Freundeskreis, nehmen Sie das »Sommerstück« von Christa Wolf: Man besinnt sich auf die schützende Idylle, man zieht sich heraus aus allem. Ich schwankte oft: Ist das kleinbürgerlich? Oder ist das Hinwendung zum wahren Sinn des Lebens: Du hast dieses eine Leben, mach es dir gut! Verlier dich nicht in allzu großer Geste! Besinn dich auf das, was du überschauen kannst. Aber dann die Gegenfragen: Reicht das? Darf man sich glücklich fühlen in einer unglückseligen Welt?

Fragen und Gegenfragen. Schwanken Sie noch immer?
Noch immer. Das treibt und das dämpft. Mal das eine, mal das andere.

Das Grundgefühl: »Kein Ort. Nirgends«.

Ja. Wenn ich Christa Wolf lese, spüre ich ein Behagen noch in dem, was mir als Verlust deutlich wird. Das ist doch auch ganz wichtig: dass man den Schmerz annimmt, die Abschiede - ohne die Lust am Leben zu verlieren.

Nicht wehleidig sein - aber noch das Weh leiden können.
Christa Wolf empfinde ich manchmal wie Tschechow: nicht wissen, wohin - aber die Schritte setzen, mit Blick nach oben. Nicht zu weit nach oben, sonst sieht man den Weg nicht mehr, also: ein Maß finden, an Aufrechtsein, an Aufrichtigkeit.

Welches Buch würden Sie jemandem empfehlen, der noch nie Christa Wolf las?
»Ein Tag im Jahr. 1960 bis 2000«, das bereits erwähnte Tagebuch. Christa Wolf beschreibt das, was am 27. September des jeweiligen Jahres geschah. So ganz ohne Aufputz. So ganz ohne Selbstbespiegelung. Einfach nur Alltag. Profan, aber nicht banal. Und immer nach dem Grund des Lebens suchend.

Welchen Grund?
Diese Dichterin fragt immer nach den Gründen, wie ihr dieses oder jenes nur geschehen, wie sie denn bloß dieses oder jenes einfach hinnehmen konnte.

Also: sich selber auf den Grund gehen, sich selber nicht mit sich selber belügen!
Ja, sie ist in einem hohen Maße unbestechlich, was das eigene Leben betrifft. Diese Strenge muss man erst mal schaffen - und durchhalten.

Was ist das Schöne, wenn man - wie Sie jetzt mit diesem Abend - allein auf der Bühne steht?

Ich darf ganz bei mir sein. So, wie man beim Lesen eines schönen Buches ganz bei sich ist.

Theaterschiff Potsdam, Schiffbauergasse: weitere Vorstellungen am 25. Oktober, 15. November und 5. Dezember, 20 Uhr