POTSDAM / INNENSTADT - Martina König, die künstlerische Leiterin des Theaterschiffs, hatte am Samstagabend wenig Mühe, den Ärger des Publikums wegen des verschobenen ersten Termins von Jörg Schüttaufs Lesung auf dem Musenkahn vergessen zu machen. Jetzt war er ja da und wie ein kleiner alter Lederkoffer anzeigte, auch endlich bereit, aus Wenedikt Jerofejews (1938–1990) „Die Reise nach Petuschki“ vorzulesen. Der Bauch des Kahns war erwartungsgemäß bis auf den letzten Platz mit strahlenden Fangesichtern gefüllt, was den in Caputh lebenden Schauspieler überraschenderweise ein wenig nervös stimmte.
Der schwer zu lesende Text mit den wirren Gedankensprüngen eines von Moskau nach Petuschki reisenden Alkoholikers, der sich mitunter in philosophische oder sogar semireligiöse Höhen schwingt, braucht eine gewisse Anlaufzeit, um in Fahrt zu kommen. Fast schien es, als würden der begnadete Koma-Trinker Wenitschka und sein Darsteller Schüttauf gemeinschaftlich auf ihre Betriebstemperatur hinarbeiten. Spätestens aber als sich der Schauspieler die Nase zuhielt und die weltweit unverständlichen Bahnhofsdurchsagen näselte, war sein Trinker rattenhackevoll und Schüttauf im Lesefluss.
Der schreibende Alkoholiker Jerofejew sah sich von Trinkern quasi umzingelt. Er beobachtete den Verfall der Sowjetgesellschaft und entwickelte in einer Art innerem Monolog das Panorama der Fixierung eines ganzen Volkes auf den Alkohol, weil dies die letzte Sinnstiftung zu sein schien.
Auf 160 Buchseiten seines Romans findet sich – ob Enkel oder Großvater, Kollege, Vorgesetzter, Bahnreisende und schließlich sogar die wegen ihrer Trinkfestigkeit vergötterte Geliebte – keine einzige Figur, deren Leben nicht um die Flasche kreist. Im Gespräch mit den begeisterten Zuhörern bekannte ein unglaublich locker plaudernde Schüttauf dann, dass er Jerofejew schon nach wenigen Buchseiten wie einen Bruder empfunden habe.
Dazu sächselte er die Geschichte einer Trunkenheitsfahrt zu DDR-Zeiten, die beinahe zur Exmatrikulation von der Schauspielschule geführt hätte. Es blieb damals glücklicherweise bei dem Hinweis, dass er in Zukunft nicht sein potenzielles Publikum totfahren solle. Vielleicht kannte ja auch deshalb der Beifall keine Grenzen. (lk)